Manches schätzt man erst, wenn man es verloren hat. Oder schätzt man erst nach dem Verlust des einen auch manch Anderes? Sei’s drum. Wer jetzt fürchtet, wieder was zu Corona hören zu müssen, liegt nicht völlig falsch - ganz ohne geht’s nicht derzeit. Etwa, wenn ich abends von der Klara-Kirche aus die ausgestorbene Königsstraße entlang schlendere, die früher zur Adventszeit vor Menschen nur so gewimmelt hat. Umso auffälliger ist es, wenn man plötzlich jemanden trifft, der ewig verschollen schien. Heinz K. (nenne ich jetzt mal so) etwa. Ein Bär von einem Mann. Langer Bart. Schwarzer Mantel. Zerfurchtes Gesicht. Der Typ Seebär. Er erzählt mir nun, dass er sich auf dieses Weihnachten freut, weil: „Schön geruhsam und ruhig. Mit meiner Frau, meinen Kindern.“ Letztere sind bereits „aus dem Haus“. Und die freien Zimmer hat er vermietet. An Studenten. Zu einem äußerst günstigen Mietpreis. „Das haben die erst nicht geglaubt.“ Eine Art WG sind sie nun. Und das, sagt er, tut allen gut. Ich weiß, was er meint: Vor einigen Jahren ist eines seiner drei Kinder gestorben. Ganz plötzlich, kurz nach dem 18. Geburtstag. „Seither ist manches nicht mehr so wichtig.“ Anderes dafür mehr. Die Zeit mit seiner Frau. Und den anderen Kindern. Der Kontakt zu den jungen Menschen, denen er helfen kann. „Und ich sage ihnen dann, wenn sie sich darüber wundern: gebt’s weiter.“
Oder Fritz S. Unlängst habe ich seinen kleinen Laden besucht. Der ist jetzt nur noch an zwei Tagen die Woche geöffnet. Wegen Herzinfarkt: Da fehlt Fritz S. nach der schweren Operation die Kraft, öfters aufzumachen. „Und nächstes Jahr ist endgültig Schluss“, sagt er. Der Laden war eine Institution. Klein aber fein. Ein Farbtupfer in der immer trister werdenden Geschäftelandschaft aus Billig-Shops, Handy- und Dönerläden. „Aber kannst du ohne den Laden leben?“, frage ich. „Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt“, antwortet er. Und ich rätsele, was er damit meint: sich selbst oder die Menschen in dieser Corona-Zeit, die nicht mehr wegfliegen können, keine Kneipen mehr besuchen können. „Wir wussten doch alle schon nicht mehr, was wirklich wichtig ist.“ Ihm sei manches klar geworden, als er wegen des Infarkts „auf der Kippe gestanden“ habe…
In Gedanken versunken gehe ich aus dem Laden. Adventliche Lichterketten funkeln. Für die paar Autos, die vorbeifahren. Menschen sind keine da. Klar: Wäre ganz nett, jetzt irgendwo noch ein Bier trinken gehen zu können. Aber ich weiß: Zuhause warten ein paar Menschen auf mich. Und das ist wirklich wichtig.
Erzbistum Bamberg
Jürgen Kaufmann
Pastoralreferent, Offene Kirche St. Klara / Kath. Cityseelsorge Nürnberg